Kathrin Passig

Standardsituationen der Technologiekritik (Merkur, Heft 727, Dezember 2009)

Eine etwas weniger falsche Version dieses Textes findet sich hier: "Neue Technologien, alte Reflexe"

Der Anthropologe Brent Berlin und der Linguist Paul Kay beschrieben 1969 in einer Studie über die Farbbezeichnungen unterschiedlicher Kulturen die immer gleiche Abfolge der beobachteten Entwicklungsstufen. Kulturen mit nur zwei Farbbegriffen unterscheiden zwischen "hellen" und "dunklen" Tönen. Kennt eine Kultur drei Farben, ist die dritte Farbe Rot. Wenn sich die Sprache weiter ausdifferenziert, kommt zuerst Grün und/oder Gelb und danach Blau hinzu. Alle Sprachen mit sechs Farbbezeichnungen unterscheiden Schwarz, Weiß, Rot, Grün, Blau und Gelb. Die nächste Stufe ist Braun, dann erscheinen in beliebiger Reihenfolge Orange, Rosa, Violett und/oder Grau, ganz zum Schluss taucht Hellblau auf.

Die Reaktion auf technische Neuerungen folgt in Medien und Privatleben ähnlich vorgezeichneten Bahnen. Das erste, noch ganz reflexhafte Zusammenzucken ist das "What the hell is it good for?" (Argument eins), mit dem der IBM-Ingenieur Robert Lloyd 1968 den Mikroprozessor willkommen hieß. Schon Praktiken und Techniken, die nur eine Variante des Bekannten darstellen – wie die elektrische Schreibmaschine als Nachfolgerin der mechanischen –, stoßen in der Kulturkritikbranche auf Widerwillen. Noch schwerer haben es Neuerungen, die wie das Telefon oder das Internet ein weitgehend neues Feld eröffnen. Wenn es zum Zeitpunkt der Entstehung des Lebens schon Kulturkritiker gegeben hätte, hätten sie missmutig in ihre Magazine geschrieben: "Leben – what is it good for? Es ging doch bisher auch so."

Weil das Neue eingespielte Prozesse durcheinanderbringt, wird es oft nicht nur als nutzlos, sondern als geradezu lästig empfunden. Der Student Friedrich August Köhler schrieb 1790 nach einer Fußreise von Tübingen nach Ulm: "Zwar wurden vermöge eines landesherrlichen Edicts überal (Wegezeiger) errichtet, aber ihre Existenz war kurz, weil sie der ausgelassene Pöbel an den meisten Orten zerstörte, welches besonders in den Gegenden der Fall ist, wo die Landleute zerstreut auf Höfen wohnen und wenn sie in Geschäften nach der nächsten Stadt oder dem nächsten Dorf kommen, meistens betrunken nach Hause kehren und weil ihnen der Weg bekanndt ist, Wegezeiger für eine unnöthige Sache halten."

Ähnlich unbegeistert scheinen die Pariser die 1667 unter Louis XIV. eingeführte Straßenbeleuchtung begrüßt zu haben. Dietmar Kammerer vermutet in der Süddeutschen Zeitung, es habe sich bei der häufigen Zerstörung dieser Laternen um einen Protest der Bürger gegen den Verlust ihrer Privatsphäre gehandelt, weil ihnen klar war, "das ist eine Maßnahme des Königs, um die Straßen unter seine Kontrolle zu bringen". Eine einfachere Erklärung wäre, dass der Bürger auf unbeaufsichtigt in der Gegend herumstehende Neuerungen generell aggressiv reagiert. Zuletzt war es die Deutsche Bahn, die erklärte, der anfängliche Vandalismus an ihren auffälligen Leihfahrrädern habe mittlerweile nachgelassen, die Einwohner hätten sich "an den Anblick der Räder gewöhnt".

Wenn sich herausstellt, dass das neue Ding nicht so überflüssig ist wie zunächst angenommen, folgt das kurze Interregnum von Argument zwei: "Wer will denn so was?" "That's an amazing invention", lobte US-Präsident Rutherford B. Hayes 1876 das Telefon, "but who would ever want to use one of them?" Und von Filmstudiochef Harry M. Warner ist die um 1927 gestellte Frage überliefert: "Who the hell wants to hear actors talk?"

Im Angesicht der Faktenlage – irgendwer will das Telefon dann ja doch benutzen – einigt man sich schließlich auf Argument drei: "Die Einzigen, die das Neue wollen, sind zweifelhafte oder privilegierte Minderheiten." In den neunziger Jahren hieß es vom Internet, es werde ausschließlich von weißen, überdurchschnittlich gebildeten Männern zwischen 18 und 45 genutzt. Mehr noch, es habe auch keine Chance, breitere Bevölkerungsschichten zu erreichen, denn "Frauen interessieren sich weniger für Computer und scheuen die unpersönliche Öde des Netzes. Im realen, nichtvirtuellen Leben sind Frauen aber die wichtigeren Käufer als Männer. Dem Internet fehlt daher eine maßgebende Käuferschicht." So schrieb Hanno Kühnert 1997 im Merkur unter dem aufrüttelnden Titel "Wenn das Internet sich nicht ändert, wird es zerfallen".

Freizeitforscher Horst Opaschowski prophezeite 1994: "Der Multimediazug ins 21. Jahrhundert wird eher einem Geisterzug gleichen, in dem sich ein paar Nintendo- und Sega-Kids geradezu verlieren, während die Masse der Konsumenten nach wie vor 'voll auf das TV-Programm abfährt'. Der Multimediarausch findet nicht statt. Die Macher haben die Rechnung ohne die Mitmacher gemacht." Schon ab den frühen neunziger Jahren wurde regelmäßig darauf hingewiesen, dass insbesondere Terroristen, Nazis sowie Pornographiehersteller und -konsumenten sich des Internets bedienten.

Einige Zeit später ist nicht mehr zu leugnen, dass das neue Ding sich einer gewissen Akzeptanz nicht nur unter Verbrechern und Randgruppen erfreut. Aber vielleicht geht es ja auch einfach wieder weg, wenn man die Augen fest genug zukneift. "The horse is here to stay, but the automobile is only a novelty – a fad", wurde Henry Fords Anwalt Horace Rackham vom Präsidenten seiner Bank in der Frage beraten, ob er in die Ford Motor Company investieren solle. Charlie Chaplin war 1916 der Meinung, das Kino sei "little more than a fad", Thomas Alva Edison verkündete 1922 "The radio craze ... will die out in time", und Ines Uusmann, die schwedische Ministerin für Verkehr und Kommunikation, hoffte noch 1996: "Das Internet ist eine Mode, die vielleicht wieder vorbeigeht." Soweit das seinerseits nicht sehr langlebige Argument vier.

Statt der Existenz des Neuen kann man danach noch eine Weile (Argument fünf) dessen Auswirkungen leugnen: "Täuschen Sie sich nicht, durch (das Maschinengewehr) wird sich absolut nichts ändern", wie der französische Generalstabschef im Jahr 1920 vor dem Parlament versicherte. Oder "Das Internet wird die Politik nicht verändern" (taz, 2000). Es handelt sich höchstwahrscheinlich nur um ein schönes Spielzeug (Argument fünf a) ohne praktische Konsequenzen: "a pretty mechanical toy", wie Lord Kitchener um 1917 über die ersten Panzer urteilte. Insbesondere lässt sich mit der neuen Technik kein Geld verdienen (Argument fünf b): "(Airplanes) will be used in sport, but they are not to be thought of as commercial carriers", prophezeit Flugpionier Octave Chanute 1904. "Eher skeptisch", so der Spiegel 1996 unter der Überschrift Mythos Netz, "betrachtet die Entwicklung auch Josef Schäfer, Bereichsleiter für Multimedia beim Essener RWE-Konzern. Multimedia sei zwar 'ein interessanter Markt, bei dem alle dabeisein wollen ... Doch ist der Kunde auch bereit, Geld dafür zu zahlen?'"

Eine Variante des Nutzlosigkeitsvorwurfs, die sich gegen Kommunikationstechnologien richtet, ist der Einwand fünf c, die Beteiligten hätten einander ja gar nichts mitzuteilen. "Wir beeilen uns stark, einen magnetischen Telegraphen zwischen Maine und Texas zu konstruieren, aber Maine und Texas haben möglicherweise gar nichts Wichtiges miteinander zu besprechen", vermutete Henry David Thoreau 1854 in Walden. Denselben Vorwurf mussten sich Telefon und Internet gefallen lassen. "Das so viel gerühmte Internet steht exemplarisch und herausragend dafür, wie eine grenzenlose Öffnung informationstechnischer Kanäle, neben einer unbestrittenen Zahl anspruchsvoller Informationen, zu einer Flut von inhaltslosem Wortlärm führt", erklärte der Dortmunder Kommunikationswissenschaftler Claus Eurich 1998 in Mythos Multimedia.

Der Autor Andrew Keen beschrieb 2007 in The Cult of the Amateur "Abermillionen von aufgedrehten Affen (und viele nicht talentierter als unsere Cousins unter den Primaten)", die nichts anderes zustande brächten als "endlose digitale Wälder des Mittelmäßigen". Ebenfalls 2007 mutmaßte Henryk M. Broder im Tagesspiegel unter der Überschrift "Das Internet macht doof", das WWW sei "maßgeblich für die Infantilisierung und Idiotisierung der Öffentlichkeit verantwortlich". "Wenn die New York Times denselben Zugang zur Öffentlichkeit hat wie eine Kannibalen-Selbsthilfegruppe, wird sich die Öffentlichkeit auf Dauer nicht auf dem Niveau der New York Times einpegeln, sondern auf dem der Kannibalen-Selbsthilfegruppe." Am Ende handelt es sich vermutlich nur um die alte Angst vor und Kritik an der Masse, was umso deplazierter wirkt, als gerade das Internet mit den herkömmlichen Vorwürfen an Massenmedien – Verbreitung einer homogenen Kultur, Nivellierung, Förderung passiver Wahrnehmung, Konservatismus – gar nicht so leicht zu packen ist.

Etwas später ist nicht mehr zu leugnen, dass das Neue sich weiter Verbreitung erfreut, keine Anstalten macht, wieder zu verschwinden, und sogar kommerziell einigermaßen erfolgreich ist. Es ist also im Prinzip ganz gut, aber, so Vorwurf Nummer sechs, nicht gut genug. Zum Beispiel kostet es Geld und wird immer teurer werden: "Wer das Internet regelmäßig nutzt, hat also trotz der preiswerten Verbindungen eine spürbar erhöhte Telefonrechnung. Die Kosten für den einzelnen User werden weiter steigen" (Kühnert). Es ist langsam und umständlich und wird immer langsamer werden: "Experten befürchten, dass das Überlastproblem in wenigen Jahren einen kritischen Punkt erreicht, wenn nicht zuvor eine Lösung gefunden wird. Bis dahin wird die Geschwindigkeit im Netz weiter spürbar zurückgehen", kündigte Peter Glaser 1996 im Spiegel unter dem Titel "World Wide Wait" an. (Es wurde dann doch, wie schon bei Thomas Malthus, "zuvor eine Lösung gefunden".)

Den meisten dieser Vorwürfe ist gemein, dass ihre Anhänger die jeweiligen Probleme für naturgegeben und unvermeidlich halten und von einer weiteren Verschlechterung der Lage ausgehen, obwohl dafür historisch gesehen eher wenig spricht. Kühnert beklagte 1996: "Eine dieser (Such-)Maschinen antwortete auf die Frage nach dem Wort 'Internet' mit 1881 Antworten. Bei der hundertzwanzigsten Auskunft mochte ich nicht mehr herumklicken." Zwei Jahre später sorgten Larry Page und Sergey Brin für Abhilfe in Form des Google-Suchalgorithmus. Man brauchte jetzt nicht mehr alle 1,5 Milliarden (Stand Oktober 2009) Suchergebnisse für das Wort "Internet" anzuklicken, sondern nur noch die ersten paar, was den Spiegel nicht daran hinderte, 2008 zu erklären: "Das größte Problem des Internet ist die Kehrseite seines größten Vorteils – das Überangebot an Informationen. Suchmaschinen liefern zwar Millionen Treffer auf alle möglichen Fragen und sortieren sie hierarchisch quasi nach ihrer Beliebtheit im Netz – sozusagen Relevanz durch Plebiszit. Kritische Vernunft jedoch hat Google in seinen Algorithmen noch nicht eingeführt." Irgendwas ist ja immer.

Die Innovation ist außerdem überkompliziert und anfällig: "The bow is a simple weapon, firearms are very complicated things which get out of order in many ways", begründete Colonel Sir John Smyth 1591 vor dem englischen Privy Council, warum eine Umstellung von Bogen auf Musketen nicht ratsam sei. Die Londoner Times hielt es in einem Leitartikel aus dem Jahr 1895 für "extremely doubtful", dass das Stethoskop jemals weite Verbreitung finden werde, denn sein Einsatz sei zeitraubend und verursache "a good bit of trouble".

Und schließlich ist das Neue nicht hundertprozentig zuverlässig. Der Volkskundler Martin Scharfe hat in seinem Buch Wegzeiger Berichte und Karikaturen zusammengetragen, in denen Wegzeiger mit unleserlichen, zerbrochenen, in die falsche Richtung weisenden oder heruntergefallenen Armen eine tragende Rolle spielen. Das gleiche Misstrauen gegenüber neumodischen Orientierungshilfsmitteln und die gleiche Schadenfreude darüber, dass sich da jemand für besonders klug und gut ausgerüstet hält und dennoch scheitert, äußert sich in den seit den späten neunziger Jahren beliebten Berichten über Autofahrer, die von ihrem Navigationsgerät in die Irre geführt werden. In dieselbe Kategorie gehören die Vorwürfe, ins Internet könne ja jeder ungeprüft alles hineinschreiben, die ihrerseits schon dem nicht mehr handgeschriebenen Buch entgegenschlugen.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt muss man sich Gedanken darüber machen, was das Neue in den Köpfen von Kindern, Jugendlichen, Frauen, der Unterschicht und anderen leicht zu beeindruckenden Mitbürgern anrichtet. "Schwächere als ich können damit nicht umgehen!", lautet Argument sieben. Der damals zweiundachtzigjährige Computerpionier Joseph Weizenbaum erklärte 2005: "Computer für Kinder – das macht Apfelmus aus Gehirnen." Medizinische oder psychologische Studien werden ins Feld geführt, die einen bestimmten Niedergang belegen und einen Zusammenhang mit der gerade die Gemüter erregenden Technologie postulieren. So fand die Psychologin Jean Twenge an der San Diego State University durch eine Studie an 16 000 Collegestudenten heraus: "Die jungen, nach 1982 geborenen Menschen sind die narzisstischste Generation der jüngsten Geschichte und weit entfernt von einer sozialen Orientierung." Mitverantwortlich seien Websites wie MySpace und YouTube, die "eine Selbstdarstellung zulassen, die weit über das hinausgeht, was in den traditionellen Medien möglich war".

Ein Urahn dieser Bedenken ist natürlich die Lesekritik. "Man liest, nicht um sich mit Kenntnissen zu bereichern, sondern nur um zu sehen, man liest das Wahre und das Falsche prüfungslos durcheinander, und dieß lediglich mit Neugier ohne eigentliche Wißbegier. Man liest und gefällt sich in diesem behaglichen, geschäftigen Geistesmüßiggang, wie in einem träumenden Zustande. Die Zeitverschwendung, die dadurch herbeigeführt wird, ist doch nicht der einzige Nachtheil, welcher aus der Vielleserei entsteht. Es wird dadurch das Müßiggehen zur Gewohnheit und bewirkt, wie aller Müßiggang, eine Abspannung der eigenen Seelenkräfte", warnt 1844 das Universallexikon der Erziehungs- und Unterrichtslehre in der zweiten Auflage. Folgerichtig erstand in den neunziger Jahren auch die gefährliche "Bibliomanie" im neuen Gewand der "Internetsucht" oder "Onlinesucht" wieder auf. Die "Abspannung der Seelenkräfte" entging auch dem Spiegel nicht, der im August 2008 beklagte: "Der Kommunikationswahn im Netz hat verhaltensauffällige und hochnervöse Individuen hervorgebracht, die immer mehr erfahren und immer weniger wissen."

Im Zusammenhang mit der Erziehung anderer zur richtigen Nutzung des Neuen stehen die jetzt auftauchenden Etikettefragen (Argument acht), bei denen es sich strenggenommen nicht um Fragen handelt, denn sie werden weniger gestellt als ungefragt beantwortet. In der Frühzeit des Buchdrucks galt es als unfein, ein gedrucktes Buch zu verschenken; getippten Privatbriefen haftete bis in die achtziger Jahre ein Beigeschmack des Unhöflichen an. Die Kritik des Handygebrauchs in der Öffentlichkeit erklärt das Sprechen mit einem unsichtbaren Gesprächspartner – im Unterschied zum Sprechen mit physisch anwesenden Dritten – zu einer Zumutung für die Umgebung. Das Herumsitzen in Cafés mit aufgeklapptem Computer wird von Gastronomen nicht gern gesehen – es vermittle ein ungeselliges Bild und schmälere die Einkünfte –, während das öffentliche Herumsitzen mit Buch oder aufgeklappter Zeitung schon seit einiger Zeit keinen Anstoß mehr erregt. Unausgesprochen geht es letztlich darum, dass Gegner einer Neuerung nicht ungefragt mit ihr konfrontiert werden wollen.

Hat die neue Technik mit Denken, Schreiben oder Lesen zu tun, dann verändert sie, Argument neun, ganz sicher unsere Denk-, Schreib- und Lesetechniken zum Schlechteren. Die Postkarte galt Kritikern um 1870 als Sargnagel der Briefkultur. Die American Newspaper Publishers' Association diskutierte im Februar 1897 die Frage: "(Do typewriters) lower the literary grade of work done by reporters?"

In der Neuen Zürcher Zeitung war 2002 wiederum zu lesen, die mechanische Schreibmaschine habe durch ihre unterschiedlich stark gefärbten Buchstaben und ihre Geräusche Individualität verkörpert und an die Dynamik der Musik erinnert. "Damit ist es längst vorbei. Der Computer hat solche Ausschläge in die Eigenheiten des Schreibens vollkommen egalisiert. Er behandelt alle Gedanken gleich, das Bild ist uniform. Mehr noch, auch jede Art von Schmutz oder Gewalt, die Schräglage des Papiers, die Stauchung der Zeilen, ein gehöhtes C – verschwunden. Was, wir wissen es, zu Nachlässigkeiten verführt: Wer hätte nicht schon geglaubt, einen trefflichen Text deshalb verfasst zu haben, weil alles so schön und rein zu lesen war? Wer wäre nicht schon versucht gewesen, einfach anzufangen, um dies oder jenes zu ergänzen und zu verschieben, zu tilgen und zu speichern?"

Die NZZ ist in diesem Punkt ein Nachzügler, eigentlich waren diese Vorwürfe an den Computer bereits in den achtziger und frühen neunziger Jahren erschöpfend behandelt worden, unter anderem in Dieter E. Zimmers Die Elektrifizierung der Sprache1. Peter Härtling erläuterte 1994 im Marbacher Magazin: "Die Prosa eines mit dem PC arbeitenden Poeten zeichnet sich für Kenner wiederum dadurch aus, dass sie unmerklich die Furcht vor dem Absturz prägt." An der University of Delaware entstand 1990 eine im Journal of Academic Computing veröffentlichte Studie, derzufolge Studenten am Apple Macintosh wegen dessen graphischer Benutzeroberfläche im Vergleich zu Studenten am PC mehr Rechtschreibfehler machen, nachlässiger schreiben, einfachere Satzstrukturen und ein kindliches Vokabular benutzen. Aktuellere Varianten sind die Klage über die "leicht verdaulichen Texthäppchen und Schaubilder" der Präsentationssoftware Powerpoint, die zu einer "Verflachung des Denkens" führen (Spiegel 2004) sowie die angeblich nachlassende Fähigkeit, längeren Texten überhaupt noch zu folgen.

In den seltenen Fällen, in denen der Kritiker erkennt, dass seine Vorwürfe schon mal da waren, argumentiert er, es sei diesmal aber trotzdem ganz anders und viel schlimmer. Der US-Essayist Sven Birkerts schrieb 1994: "Der Unterschied zwischen der Frühen Neuzeit und der Gegenwart ist – drastisch vereinfacht – der, dass der Körper einst Zeit hatte, das transplantierte neue Organ anzunehmen, während wir jetzt Hals über Kopf voranstürzen". Ein zukunftsträchtiges Argument, schließlich ist nicht abzusehen, dass das Tempo der Veränderungen nachlassen wird. Im Gegenteil: "Denn die Zeit zum Umstellen, zum Erlernen der neuen Techniken wird immer knapper. Von den ersten nachweisbaren Schriften der Menschheit bis zum Kodex: 3600 Jahre; von dort zu Gutenbergs beweglichen Lettern: 1150 Jahre. Und seither geht es Schlag auf Schlag", berichtet der Spiegel im August 2008.

Dass jede Technologie diese Stufen von neuem durchlaufen muss, erklärt das unvorhergesehen hohe Internetkritikaufkommen der letzten zwei Jahre. Während die Kritik am 1994 aufgetauchten World Wide Web in ihren Endphasen angelangt ist, bewegen sich diverse internetbedingte Neuerungen gerade durch die ersten Stufen, etwa der 2006 gestartete Mikrobloggingdienst Twitter: "Unklar daran", schrieb der Journalist Bernd Graff 2008 in der Süddeutschen Zeitung, "ist nur, warum man das tun sollte, warum man also überhaupt mikro-bloggen oder, wie man – benannt nach dem prominentesten Mikro-Blogging-Anbieter – inzwischen auch sagt, warum man 'twittern' sollte" (Argument eins). Die "gewöhnliche Tonlage des Netz-Gezwitschers" sei "monoton und von ergreifender Schlichtheit" (Argument fünf c). Johannes B. Kerner fragte im September 2009: "Wen interessiert denn das? Ich kann mir nicht vorstellen, dass davon ein Wahlkampf beeinflusst wird. Es ist ein völliger Unsinn. Völlig gehaltlos für journalistisches Arbeiten" (Argument fünf).

Man weiß zwar derzeit mangels verlässlicher Erhebungen noch gar nicht so genau, wer Twitter nutzt und wer nicht. Dass es aber wahrscheinlich kein repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt ist, gibt Anlass zu Kritik wie dieser 2008 von Christian Stöcker im Spiegel geübten: "Twitter wird allerdings eher von Präsidentschaftskandidaten, pummeligen Silicon-Valley-Nerds Ende dreißig und um Hipness bemühten Technikjournalisten benutzt als von der Jugend" (Argument drei).

Das iPhone (Jahrgang 2007) hat die schon aus der Handyeinführung in den neunziger Jahren bekannten Kritikstufen "Braucht kein Mensch" – "Brauch ich nicht" – "Ist nur was für Angeber" durchlaufen und ist bei "Ich hab mir jetzt auch so ein iPhone geholt – aber der teure Vertrag!" (Argument sechs) angekommen. Sowohl beim Handy als auch beim Smartphone zeigten sich, wie zum Zeitpunkt der Anschaffung noch die vom Vorläufer abgeleiteten Nutzungsabsichten dominieren: "Wir wollen nur im Urlaub erreichbar sein! Nicht selbst telefonieren!", versicherte man dem Verkäufer ungefragt; beziehungsweise im Falle des Smartphones: "Wir wollen gar nicht ins Internet! Nur telefonieren!" Es kann dann noch einige Zeit dauern, bis die eigentlich innovativen Fähigkeiten des Geräts tatsächlich genutzt werden.

Auch E-Books haben die "What is it good for"-Phase im Laufe des Jahres 2009 verlassen, während vom – etwas jüngeren – Netbook immer noch hin und wieder zu lesen ist, es brauche nun wirklich kein Mensch ein weiteres Gerät zwischen Smartphone und Notebook. Das 2004 gestartete Facebook, schrieb die Journalistin Virginia Heffernan 2009 in der New York Times, ist zu kommerziell, gefährdet die Privatsphäre, ruiniert Freundschaftsbeziehungen und war nur ein kurzlebiger Hype. Und Google, Jahrgang 1998, macht dumm, wie der Sachbuchautor Nicholas Carr 2008 im Atlantic erklärte.

Es scheint derzeit etwa zehn bis fünfzehn Jahre zu dauern, bis eine Neuerung die vorhersehbare Kritik hinter sich gebracht hat. Die seit 1992 existierende SMS wird mittlerweile nur noch von extrem schlechtgelaunten Leserbriefschreibern für den Untergang der Sprache verantwortlich gemacht. Immerhin aus Irland, einem Museum anderswo bereits ausgestorbener Kulturkritik, drang noch 2007 die Kunde, das Schreiben von Kurznachrichten verrohe die Sprache der Jugend. Das Niveau der Abschlussarbeiten fünfzehnjähriger Schüler, so das Ergebnis einer Untersuchung der irischen State Examination Commission, habe im Vergleich zum Vorjahr nachgelassen. "Mobiltelefone und die steigende Popularität von Textnachrichten" hätten einen deutlichen Einfluss auf die Schreibfähigkeiten der Jugend (Argumente acht und neun), gab der Vorsitzende der Kommission in einem Gespräch mit der Irish Times an.

Das eigentlich Bemerkenswerte am öffentlich geäußerten Missmut über das Neue aber ist, wie stark er vom Lebensalter und wie wenig vom Gegenstand der Kritik abhängt. Dieselben Menschen, die in den Neunzigern das Internet begrüßten, lehnen zehn Jahre später dessen Weiterentwicklungen mit eben jenen damals belächelten Argumenten ab. Es ist leicht, Technologien zu schätzen und zu nutzen, die einem mit 25 oder 30 Status- und Wissensvorsprünge verschaffen. Wenn es einige Jahre später die eigenen Pfründen sind, die gegen den Fortschritt verteidigt werden müssen, wird es schwieriger.

Zur Bewältigung dieses Problems gibt es zwei Ansätze: In der schlichteren Variante kann man zumindest versuchen, den Gebrauch der Standardkritikpunkte zu vermeiden, insbesondere dann, wenn man sich öffentlich zu Wort meldet. Die hier versammelten Einwände gegen neue Technologien sind nicht automatisch unberechtigt – es ist lediglich nicht sehr wahrscheinlich, dass man damit valide Kritikpunkte identifiziert. Wenn jeder dieser Schritte einen realen Niedergang beschriebe, wäre die Welt eine von M. C. Escher gezeichnete Treppe.

Die mühsamere Therapie heißt Verlernen. Denn niedere Statuszugewinnabsichten sind nicht der Hauptgrund für die Neophilieunterschiede zwischen den Generationen. Der erwachsene Mensch kennt einfach zu viele Lösungen für nicht mehr existierende Probleme. Dazu kommt ein Hang zum Übergeneralisieren auf der Basis eigener Erfahrungen. In einem 1996 geführten Spiegel-Interview mit dem damals fünfunddreißigjährigen Friedrich Küppersbusch entfaltet sich unter der Überschrift Wer nichts wird, wird virtuell das ganze Spektrum des "Been there, done that"-Problems: Das Internet, so Küppersbusch, sei "nicht viel mehr als die Neuerfindung des Telefons, jetzt mit Bild und Datenleitung" und "das Gequatsche im Internet nichts anderes als der CB-Funk der siebziger Jahre". Interaktivität kenne man "im Fernsehen doch schon seit den siebziger Jahren unter dem Motto 'Sie können uns anrufen!' Das Internet kommt in dem Punkt zwei Jahrzehnte zu spät." Die Konsumhaltung sei viel zu ausgeprägt und das Internet "ein tolles Spielzeug, das aber wie alle entwickelten Massenmedien nur zur Vereinzelung beiträgt".

Als Küppersbusch am Ende des Interviews gefragt wird, ob hier der "technikfeindliche deutsche Intellektuelle" spreche, gibt er in seltener Offenheit die autobiographischen Wurzeln seines Unbehagens zu: "Nein, ich habe nur keinen Bock, in Enttäuschungen reinzulaufen, die ich mit 15 hatte. Als ich gedacht habe, wenn ich eine Schülerzeitung gründe, dann könnten 1500 Schüler mitmachen. Mit einer Jugendtalkshow habe ich das später noch einmal versucht. Die Leute hatten alle Möglichkeiten und haben nichts draus gemacht. Den Frust hol' ich mir nicht jede Woche."

Wer darauf besteht, zeitlebens an der in jungen Jahren gebildeten Vorstellung von der Welt festzuhalten, entwickelt das geistige Äquivalent zu einer Drüberkämmer-Frisur: Was für einen selbst noch fast genau wie früher aussieht, sind für die Umstehenden drei über die Glatze gelegte Haare. So lange wir uns nicht wie im Film Men in Black blitzdingsen lassen können, müssen wir uns immer wieder der mühsamen Aufgabe des Verlernens stellen. Mit etwas Glück hat der Staat ein Einsehen und bietet in Zukunft Erwachsenenbildungsmaßnahmen an, in denen man hinderlich gewordenes Wissen – sagen wir: über Bibliotheken, Schreibmaschinen, Verlage oder das Fernsehen – ablegen kann.

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